Achtsamkeit?

„Achtsamkeit? Habe ich von meinem Hund gelernt.“

Viele Jahre bin ich mit unserem Hund morgens und abends Gassi gegangen. Längere Spaziergänge durch die naheliegenden Felder und Wälder. Sobald wir die Straßen der Stadt verlassen hatten, habe ich unseren Hund von der Leine gelassen. Ich bin dann in meinem Tempo die Strecke abgelaufen und unser Hund kam mir hinterher oder ist vorneweg gelaufen. Seit einiger Zeit kann unser Hund nicht mehr so gut laufen. Das bedeutet, dass ich ihn an der Leine führen muss. Wir können auch nur sehr langsam gehen. Für ein Drittel der Strecke benötigen wir jetzt die dreifache Zeit. Es gleicht eher einer Gehmeditation* als dem gewohnten strammen Marsch.

Das war eine ganze Zeit lang sehr ungewohnt für mich. Das tägliche Spazierengehen war eine Pflichtaufgabe, die ich gerne in meinem Tempo so schnell erledigte, dass es gut in meinen Zeitplan passte. Ehrlich gesagt habe ich sogar manchmal dabei telefoniert oder Musik gehört. Jetzt ist das anders. Ich gehe zum ersten Mal mit unserem Hund spazieren. Ich beobachte ihn, wie er läuft, wann er stehen bleibt, welches Geräusch er wahrnimmt. Ich nehme auch zum ersten Mal bewusst die Umgebung wahr, durch die ich jahrelang gelaufen bin.

Ich gehe Schritt für Schritt. Sehr langsam und bewusst setze ich einen Fuß vor den anderen, während ich mich auf das konzentriere, was ich wahrnehme. Ich rieche den Wald. Ich spüre die unterschiedlichen Bodenbeläge unter meinen Füßen. Ich sehe die Blumen am Wegesrand und höre zum ersten Mal die Vögel wie sie die übrigen Waldbewohner vor uns warnen. Alles das war vorher auch da. Ich habe es nur nicht wahrgenommen. Ich habe eine täglich wiederkehrende Aufgabe erledigt und manchmal dabei prozessoptimiert gehandelt, indem ich noch andere Aufgaben währenddessen erledigt habe.

Das ist jetzt vorbei. Dank unserem Hund nehme ich jetzt wahr, was ich tue, wenn ich es tue. Am Anfang war ich etwas sauer, weil zum Beispiel der Fitnessaspekt des täglichen Gassi Gehens jetzt wegfällt, oder weil ich viel mehr Zeit „verschwende“. Aber mittlerweile sehe ich das ganz anders und bin sehr dankbar, dass ich das von meinem Hund lernen durfte. In vielen Situationen des täglichen Alltags habe ich diese Erfahrungen mittlerweile berücksichtigt. Es gab viel mehr Tätigkeiten als mir bewusst war, bei denen ich schon fast automatisch agiere und dabei völlig verpasst habe, was grade alles geschieht.

Achtsamkeit bedeutet den Moment zu erleben, wie er ist. Nicht wie ich ihn gerne hätte oder ihn mir vorstelle. Es bedeutet, sich als Teil des Großen und Ganzen wahrzunehmen. Das geht allerdings nur, wenn ich mit meinen Gedanken nicht schon beim nächsten Termin oder beim letzten Streit bin. Mein Lieblingszitat dazu lautet: “Wenn ich esse, esse ich. Wenn ich lese, lese ich. Wenn ich schlafe, schlafe ich.“

*Bei einer Gehmeditation (Kinhin) geht man besonders langsam. Man setzt bewusst einen Fuss vor den anderen und nimmt das Gehen während der Gehmeditation bewusst war. Mehr zur Gehmeditation finden sie auf Wikipedia hier